Harold Pinter - Was hat Politik mit Literatur zu tun?



Oder umgekehrt: Warum schert sich Literatur um Politik? Wir hatten uns i.W. doch daran gewöhnt, das Literatur allenfalls in verfilmter Form genossen werden und damit als fun-Grundlage dienen kann. Andere Ansprüche? Fehlanzeige. Gelesen wird ja eh’ nicht mehr. Schriftsteller, “Intellektuelle”, die sich massgeblich politisch äussern, Richtungen aufzeigen, sich provozierend einmischen. Wann hatten wir das zuletzt? Und wo?

Nun der diesjährige Literaturnobelpreis. Warum ausgerechnet Pinter? Letztes Jahr zerfetzten sich nur absolut berufene das Maul über die Wahl von Elfriede Jelinek. Sonst interessierete das eigentlich niemanden. Einige besorgten sich dann vielleicht doch das eine oder andere Werk als Taschenbuch (ich auch), um zu erfahren, was es denn auf sich hatte mit den Wort- und Satzverschlägen der Jelinek. Ergebnis? Nun, Kultur braucht Vielfalt...

Dieses Jahr: Wieder grosses Kopfschütteln in der “Fachwelt”. Der oder die wäre ja eigentlich dran, ich hätte mir Philip Roth vorstellen können oder... Aber Harold Pinter? Name gehört ja, was gelesen nie, gesehen auch nicht, als Haudegen im Kopf, o.k.. Bühnenstücke von früher, Nobelpreis heute?

Aber das interessierte eigentlich niemanden.

Und dennoch, er hat uns gestern gelehrt, was Literatur mit Kultur und Kultur mit Politik zu tun hat. Haben sollte. Was Sprache kann und bewirkt. Nachzulesen in seiner - nicht selbst gehaltenen - Dankesrede in Stockholm anlässlich der gestrigen Preisverleihung. Keiner hatte wohl gedacht, dass der knorrige Herr mit der Lotsenmütze sich dieser Aufgabe - wieder - unterziehen würde. Zurückhaltend war seine Reaktion am Tag der Bekanntgabe, als er sich auf der Treppe vor seiner Haustüre zeigt.

Und nun diese Wucht an moralischer Nachhilfe. Nicht nur für die USA. Nicht nur für sein Heimatland. Und nicht zum ersten Mal. Seine Denkschrift »Krieg« enthält die der jetzigen Rede zugrunde liegenden Gedanken nahezu alle schon. Wesentlicher Teil der 2003 erschienenen Denkschrift*) ist eine Rede, gehalten in Florenz am 20. September 2001 - wenige Stunden vor der Zerstörung des World Trade Center in New York...

Es ist Nachhilfe für uns alle, die wir uns an all den Dreck gewöhnt haben, der täglich über uns herab geschüttet wird von den Mächtigen. An all die Lügen, Verdrehungen, Unterlassungen und - ja eben: Gewalt, Tortur, Folter. Aufrüttelnder, klarer, wahrer kann man nicht mehr mahnen und anklagen. Es ist an uns, Konsequenzen zu ziehen. Wenigsten im Kopf. Viele Menschen in den USA können unsere Freunde und Brüder sein, nicht aber diese Administration, diese Regierung, diese Schlangengrube aus industriellen, kapitalstischen und politischen Banditen und Helfern.

»„Es gibt keine klaren Unterschiede zwischen dem, was wirklich und dem was unwirklich ist, genauso wenig wie zwischen dem, was wahr und dem was unwahr ist. Etwas ist nicht unbedingt entweder wahr oder unwahr; es kann beides sein, wahr und unwahr.“

Ich halte diese Behauptungen immer noch für plausibel und weiterhin gültig für die Erforschung der Wirklichkeit durch die Kunst. Als Autor halte ich mich daran, aber als Bürger kann ich das nicht. Als Bürger muss ich fragen: Was ist wahr? Was ist unwahr?«

(Beginn seiner Rede)

»Es ist nie passiert. Nichts ist jemals passiert. Sogar als es passierte, passierte es nicht. Es spielte keine Rolle. Es interessierte niemand.«

Wie, so frage ich mich, konnte die Journaille mal wieder verwundert tun und titeln:

»EKLAT BEI NOBELPREISREDE - Pinters Frontalangriff auf die USA - Wer altersmilde Dankesworte erwartet hatte, wurde von einem Donnerschlag überrascht: Der diesjährige Literaturnobelpreisträger Harold Pinter nutzte seine heute veröffentlichte Rede für eine massive Amerika-Kritik. Fazit: Die USA sind "brutal, verächtlich und skrupellos".«

(SPIEGEL-ONLINE)

*) Harold Pinter: Krieg, Rogner und Bernhard bei Zweitauseneins, 2003.


Donnerstag, 08. Dezember 2005 16:56


Keine Kommentare:

Ein neuer Beitrag von heute (Test)

Hier steht alles in der Test zwischen zwei horizontalen Linien.