Ein Spaziergang in Litauen (1)



Samstag, 13. August 2005 14:12 : ich sitze im armenischen Lokal in Raudondvaris und warte auf’s Essen:

Heute morgen, ein Spaziergang ins Gelände, das Wetter erlaubt es. Wie muss man sich ausdrücken, wenn man Lebensbedingungen beschreiben möchte, ohne die Betroffenen zu verletzen oder den Eindruck zu erwecken, man beabsichtige das?

10 Jahre komme ich jetzt nach LT, 10 Jahre beobachtend, schauend, was ist, was sich ändert: Die Strassen, die Häuser, die Landschaft, die Menschen. Aller Glamour der Einkaufsparadiese schneidet die Konturen der Divergenz zwischen kapitalistischem Überfall und der realen Situation der Leute nur umso härter. Technisch wird vermeintlicher "westlicher" Standard geliefert, meist aber das chinesische minderwertigste Plagiat; der Preis entscheidet gnadenlos. Trotzdem will man alles haben. Ergebnis: Es funktioniert, wenn je, nur kurz...

Was ändert sich wirklich? In den Städten? Vilnius ist die Ausnahme. Wohl schon immer. Schon der Schritt nach Kaunas oder nach Klaipeda (Memel) macht schnell klar: Vilnius ist Zentrum, der Rest Provinz. Auch in Vilnius selbst gibt es Gegensätze, die einem die Tränen in die Augen treiben können, wenn man sensibel ist - in jedem Fall aber den Schreck in die Glieder. Die grosse Zahl der “normalen” Menschen, besonders der Alten und erst recht die vom Lande - sie werden nicht mitgenommen. Sie bekommen nichts ab vom Einzug des Überflusses, wie er z.B. im Einkaufszentrum Akropolis zelebriert wird. Schon die Wahl des Namens: Ein Missgriff oder Übergriff ... Geöffnet von 8 - 24 Uhr, auch an Sonn- und Feiertagen, belagert und durchwandert von Menschen, die das alles nur bestauen können - man schaue nur, wenn sie dann wieder herauskommen: keine Tüte...

Auf dem Lande? Raudondvaris ist Land. Dorf wäre zuviel gesagt, dafür fehlt ihm eine irgendwie sichtbare Struktur, ein Zentrum, etwas “Eigenes”.

Die Holzhäuser, noch immer vorwiegend einsturzgefährdet aussehend, geflickt mit PVC-Folie, Alu-beschichtet oder roh, Holz, Pappe. Neue Häuser extrem: Neureich übertrieben protzig/kitschig neben halbfertigen, mit minimalen, unzureichenden Mitteln hergestellt - teilweise wie im Kosovo, nur eben fertiger, denn sie sind bewohnt.

Die Felder - sind es Wiesen, die Sandflächen? Oft nicht entscheidbar, die Nutzpflanzen halten den Unnützen nur mühsam die Waage. Landschaften, denen der Mensch nur entreisst, was er unbedingt braucht: Kümmernde Gerste vielleicht, Haferähnliches zwischen dem, was es bei uns fast nicht mehr gibt, ausgerottet mit chemischer Keule. Graspfade, vielleicht mit Wagenrillen; Sandpfade zuweilen, selten asphaltierte Wege, diese dann mit Schlaglöchern verziert, dass es zuweilen schwer wird, de Fuss sicher zu setzen. Zuletzt Kopf-, nein Feldsteinpflaster, gewölbt, wie wir sie 200 Jahre früher wähnen...

Selbst die Vorgärten, fast ohne Übergang an der Strasse beginnend, Staub wird im Übergang zu sandiger Erde, tragen neben Tagetes, umgeknickten Malven nur schüchterne Schöpfe von Rote Bete, Kartoffel und Gelbe Rübe; hier und da vielleicht noch ein Plastiktopf mit Petunien aus dem Baumarkt auf einem kurzen Holzklotz oder einfach unachtsam im Gras am Zaun: selbst die eher kränkelnd als rankend.

Und plötzlich ein Rasen, englisch fast. Kein Golfplatz. Ein Haus steht darauf, bewohnt, unfertig, die Eingangstreppe ohne Geländer endet im Rasen, kein Weglein... Die Bewohner betreten das Haus nur von hinten oder von der Seite, unbemerkt. Nur beim Rasenmähen, von Hand, werden sie sichtbar. Kleine Pracht zwischen Einöde.

Die Wälder, verkommen zu Klein- und Kleinst-Schutthalden. Tüten mit Hausmüll neben den gesammelten Plastik- und Gummiresten eines Autoverwerters. Selten Bauschhutt... Aber grün, teils undurchdringlich. Schmetterlinge begegnen einem, wie sie in unseren Kindertagen für uns selbstverständlich waren: Sandfalter, Bläulinge, Kohlweisslinge, Tagpfauenaugen, Bekannte ohne Namen. Und Frösche kreuzen. Und Mücken stechen...

Salweiden (die salix caprea kommt mir wieder in den Sinn, die erste Kinder/Jugendschwärmerei, sie vergessen wir nicht!), hoch, wuchtig, Birken, Pappeln, fremdartiges gar, das ich nicht kenne.

Die Menschen: verstohlen blickend kommen sie entgegen, passieren, das freundliche "Labas" nicht oder höchstens kaum wahrnehmbar erwidernd, erschrocken fast, dass man sie wahrnimmt. Hölzern-steinerne Gesichter. Ein freundliches Nicken verliert sich, ohne Reaktion.

Die Kühe, in ihrem Kreis genügsam grasend, es hat geregnet die letzten Tage, das Gras ist frisch, feucht, reichlich, die Sonne fehlt oder lugt schüchtern, es ist eher kühl, also angenehm unter freiem Himmel.

Es ist Mitte August. Aber man kann schnell nachvollziehen: Wenn jetzt die Sonne ganz fehlt, Kühle zur Kälte wir, Schnee fällt, das Eis innen an der Scheibe dicker ist als die Scheibe selbst, die Kuh mit dem kläglichen und sicher nicht reichlichen Winterfutter durchgebracht werden muss, wenn man alt ist und alleine - der Alkohol steht nahe und der Selbstmord daneben. 2 Liter Milch für 1 Liter Wasser, so sieht der Kapitalismus für den Mann auf dem Land aus, der nichts hat, auch keine Perspektive.

Der Bauer, der viel hat, wenn er mit Pferd und Wagen, gar mit Gummibereifung, sein bisschen gemähtes Gras nach Hause fährt. Nichts, was an Überfluss erinnert hier draussen.

Schlimm: Wer hier Arbeit hat und sei sie noch so kärglich bezahlt, meint, jeder könne welche bekommen. Alle 25-30% Strasse fegen?

Wie bei uns: Wer trinkt, ist ein Taugenichts. Die Frage, warum Litauen die höchste Selbstmordrate hat in Europa, sie wird ungern diskutiert und schon gar nicht beantwortet...

Haben wir je einen - sei's auch der motivierteste - Arbeitslosen sagen hören, jeder könne Arbeit finden, wenn er nur wolle?

Keine Kommentare:

Ein neuer Beitrag von heute (Test)

Hier steht alles in der Test zwischen zwei horizontalen Linien.